"Digitalfotos sind authentischer"

(Focus)

Der Kölner Fotopsychologe Martin Schuster preist die Revolution des Knipsens durch die digitale Technik

FOCUS: Sie plädieren dafür, die Kamera wie ein Tagebuch einzusetzen. Wozu soll die Bilderflut dienen?

Schuster: Viele Menschen unterschätzen noch die Faszination des Alltagslebens. Gerade Erinnerungen wie etwa ein Foto vom Lieblingsteddy, von alten Freunden oder früheren Wohnungen können aber in schwierigen Lebenssituationen viel Trost und Optimismus vermitteln.

FOCUS: Fotografieren als Therapie?

Schuster: Warum nicht? Therapeuten können aus Motivwahl und Bildkomposition etwas über die Realität des Fotografen erfahren, über seine Stimmung und seine Prioritäten. Diese so genannte Fototherapie wird noch an Bedeutung gewinnen, wenn die Digitalkamera zum ständigen Begleiter und Gebrauchsgegenstand wird.

FOCUS: Geht das dauernde Knipsen nicht auf Kosten des Erlebens?

Schuster: Das war vielleicht früher so, als Fotoapparate schwierig zu bedienen waren und große Konzentration erforderten. Heute braucht man nicht mal mehr durch den Sucher zu blicken und bekommt ein anständiges Bild. Das erleichtert das Erleben! Außerdem gewinnt man Sicherheit: Wer sich vor Ort überzeugen kann, dass etwa das Bild von der Akropolis gelungen ist, kann danach in größerer Ruhe sein Eis essen.

FOCUS: Leidet nicht die Qualität der Fotos unter der digitalen Flüchtigkeit?

Schuster: Die Kameras sind heute so gut, dass die technische Qualität dennoch besser ist als früher. Ich würde dazu ermuntern, die Fotografie noch erlebnisorientierter einzusetzen, noch mehr zu experimentieren. Das Schöne dabei ist: Die digitalen Fotos sind authentischer, weil die Menschen sich weniger inszenieren. Und wer sich ein bisschen mit Photoshop auskennt, kann die Digitalbilder am Bildschirm noch aufpeppen und etwa surrealistische Kunstwerke schaffen.

FOCUS: Werden wir dank der Digitaltechnik noch nie gesehene Bilder betrachten können?

Schuster: Ja, allerdings nicht nur im positiven Sinn. Weil der Digitalfotograf kein Labor benötigt, kann er früher unvorstellbare Dinge aufnehmen und hoffen, dass sie auf seiner Festplatte geheim bleiben. Ohne Computertechnik wären die Folterbilder im Irak oder die pornographischen Fotos im österreichischen Priesterseminar wahrscheinlich nicht entstanden. Aber dann lassen sich die Dinge doch nicht so gut verstecken, oder plötzlich kursieren Papierausdrucke. Uns steht eine Flut von geheimen Bildern bevor.

FOCUS: Offenbar will der Fotograf sein Bild nicht nur am Bildschirm betrachten.

Schuster: Das Papierbild ist ein realer Gegenstand. Das ist wesentlich sinnlicher, das kann man anfassen, in die Tasche stecken oder auch zerstören, wenn man sich über den Abgebildeten geärgert hat. Das fehlt übrigens noch in den digitalen Fotoalben: die Funktion „Zerreißen" — so dass man auf dem Bildschirm beobachten kann, wie das Bild in kleine Stücke gerissen wird.


© Dieter Röseler
„Die Funktion 'Zerreißen' fehlt noch in den digitalen Fotoalben“, meint Martin Schuster, Psychologe an der Universität Köln

 

Martin Schuster

  • Der 57-Jährige lehrt an der Erziehungswissenschaftlichen Fakultät der Universität Köln.
  • Seine Forschungen beschäftigen sich unter anderem mit Kinderzeichnungen, und Kunsttherapie.
  • Schusters neues Buch „Fotos sehen, verstehen, gestalten" erscheint im Springer Verlag.