Piep, Piep, Piep - Guten Appetit!

(Zeit Wissen)

Küsse zur Begrüßung, Reime am Esstisch, die Einstandsfeier für den neuen Kollegen: Unser Alltag steckt voller Rituale. Ohne sie funktionieren Gesellschaften nicht, sagen Anthropologen  

Wer wissen will, wie unsere Gesellschaft wirklich funktioniert, muss sich für die Unterschiede zwischen Frühstücksbroten und Schulbroten interessieren. Auf dem Frühstückstisch von Familie Zobel aus Berlin stehen zum Beispiel: Toast, Knäckebrot, Graubrot, Vollkornbrot, Butter und Margarine, Mortadella, Salami, Camembert, Streichkäse, Orangen- und Erdbeermarmelade. Entscheidend ist nun die Frage: Wer schmiert?

Ergebnis der Feldforschung: Nur die Frühstücksbrote werden bei Zobels noch von der Mutter zubereitet. Die Pausenbrote für die Schule müssen sich die 12-jährigen Zwillinge Anna und Björn sowie die 9-jährige Carolin selbst schmieren.

Dieser vermeintlich banalen Tatsache entnimmt die Wissenschaft einen tieferen Sinn: Die Schulbrote markieren nicht nur den »kulinarischen Übergang von der Institution Familie zur Schule, sondern zugleich den Ablösungsprozess der jüngeren Generation«, sagt Kathrin Audehm vom Arbeitsbereich Anthropologie an der FU Berlin. Indem die Kinder die »Selbstversorgung für die für sie relevante Institution lernen, werden sie ein Stück weit mehr zu Erwachsenen«. Das Schmieren der Brote sei ein im Alltag eingebautes, leicht zu übersehendes, aber gut funktionierendes Übergangsritual.

»Erziehung bei Tisch. Zum Zusammenhang von Ritual und Performativität« lautet der Arbeitstitel von Audehms Doktorarbeit. Anthropologen in aller Welt haben ein neues Forschungsgebiet entdeckt: Alltagsrituale. Früher studierten sie das Klassenbewusstsein brasilianischer Plantagenarbeiter oder Fruchtbarkeitstänze im afrikanischen Busch, heute finden sie ihre Forschungsobjekte in der eigenen Nachbarschaft, mitten in der modernen Gesellschaft.


© York Christoph Riccius
Die Einschulung ist ein Initiationsritus. Die Schultüte ihr nach Außen hin weithin sichtbares Zeichen

In Berlin machen sich Kathrin Audehm und andere Doktoranden unter Anleitung des Anthropologen Christoph Wulf mit Videokamera und Notizblock auf Ritualsuche. In Heidelberg haben sich 50 Wissenschaftler aus 15 Fächern zum Sonderforschungsbereich Ritualdynamik zusammengeschlossen, und auch in Mainz, in der Schweiz, in Frankreich und in den USA beschäftigen sich immer mehr Forscher mit Ritualen.

Erst seit Ende der 80er Jahre erkennen die Wissenschaftler, dass Rituale auch in modernen Gesellschaften eine zentrale Rolle spielen - man hatte sie nur übersehen, weil sie sich im Alltag verbergen.

Rituale machen das Zusammenleben überhaupt erst möglich. Schon beim Begrüßen ist es hilfreich, wenn man weiß, was zu tun ist: Wangenküsschen in Frankreich, Händeschütteln in Deutschland oder Smalltalk übers Wetter in England. Und auch der kurze Kuss zwischen Liebenden, bevor sie schlafen gehen, hat eine tiefere Bedeutung, als lediglich Zärtlichkeit zu vermitteln. »Häufig werden diese Rituale erst dann bewusst vermisst, wenn sie einmal vergessen oder im Streit nicht vollzogen werden«, schreibt Lorelies Singerhoff in ihrem soeben erschienenen Buch Rituale (mvg Verlag). »Die Macht der Alltagsrituale liegt darin, dass sie sich unendlich geschickt anpassen«, sagt der Anthropologe Christoph Wulf.

Rituale können dem Kalender folgen, wie Weihnachten oder das Sonnenwendfest. Sie können als rites des passages Übergänge in neue Lebensphasen markieren, etwa zu Geburt, Mannbarkeit, Hochzeit und Begräbnis. Wenn kleine Kinder am ersten Schultag mit ihrer Schultüte nach Hause gehen, tragen sie das weithin sichtbare Zeichen für einen neuen, wichtigen Lebensabschnitt vor sich her.

Rituale können aber auch ereignisbezogen stattfinden und sogar helfen, Krisen zu bewältigen. Ein Begräbnis läuft nach einem seit Generationen gleichen Ritus ab und bietet den Hinterbliebenen eine stabile Struktur, an der sie sich in ihrer Trauer festhalten können und innerhalb deren sie Abschied nehmen können.

Der neue Mitarbeiter wird mit einer Einstandsfeier in die Gemeinschaft des Betriebs aufgenommen. Und wenn das Kind zu Beginn jedes Mittagessens mit den Eltern kräht: »Piep, piep, piep, wir hab'n uns alle lieb. Piep, piep, piep: guten Appetit«, dann hat auch das eine Bedeutung. Das Kind vergewissert sich, dass die Familie fortbesteht und sich damit die Welt weiter dreht. An keinem anderen Ort werde ein Mensch so stark sozialisiert wie am Tisch, schreibt Lorelies Singerhoff. »Essensrituale zielen auf korrektes gemeinsames Handeln, das für alle verbindlich ist.«

Christoph Wulfs These lautet: »Ohne Rituale wäre Gemeinschaft nicht möglich.«

Das gilt selbst im Badezimmer. »Zähneputzen ist nicht immer nur Saubermachen, sondern auch ein Reinigungsritual, wie man es aus vielen Kulturen auch im religiösen Bereich kennt«, sagt Wulf. Gerade Kinder putzen sich exzessiv und mit viel Selbstdarstellung die Zähne. Sie zelebrieren so den Übergang vom Tag zur Nacht. »Eigentlich ist das leicht zu erkennen«, sagt der Anthropologe. »Man muss nur bereit sein, eine soziale Handlung oder eine Körperbewegung als ein Zeichen zu sehen, das auch etwas anderes bedeuten kann. Dann lässt sich die Welt wie ein Text lesen. Zwischen den Zeilen sind Botschaften versteckt.«

Rituale bringen durch ihre Festlegung und Wiederholung einen vertrauen- erweckenden, beruhigenden Hintergrund ins Leben, hat Singerhoff festgestellt. Kindern, denen jeder Tag eine Fülle von Neuigkeiten bringt, gibt es ein Gefühl der Sicherheit, wenn sich manche Dinge nicht ändern: Jeder Abend muss vom Vorlesen der Gutenachtgeschichte bis zur exakten Reihenfolge Kuss - Zudecken - Licht aus genau gleich ablaufen. Und wehe, wenn der Babysitter dieses Ritual nicht kennt!


© York Christoph Riccius
Piep-Piep-Piep, wir haben uns alle lieb. Essensrituale strukturieren den Tag

»Gerade in Zeiten sozialer Unsicherheit gibt es wieder ein erhöhtes Bedürfnis nach Ritualen«, das beobachtet Christoph Wulf auch bei Erwachsenen. »Außerdem erleben wir heute eine Ausdifferenzierung der Gesellschaft in viele heterogene Gruppen, die jeweils ihre eigenen rituellen Formen entwickeln, mit denen sie Inklusion und Exklusion beschreiben.« Mit ihrem ausgeklügelt choreografierten Handschlag demonstriert eine Jugendgang allen Außenstehenden nicht nur, wie cool sie ist, sondern vor allem: »Ihr gehört bei uns nicht dazu.«

Rituale können auch helfen, Konflikte zu bewältigen. Kathrin Audehm beobachtete eine Zeit lang die alleinerziehende Susanne Maier und ihre zwölfjährige Tocher Dorothea bei Mittag- und Abendessen. Die Mutter legt Wert auf salzarmes Essen, der Tochter schmeckt es dann immer zu fade. Intuitiv haben die beiden ein sich täglich wiederholendes Ritual entwickelt: Die Mutter vergisst bei jeder Mahlzeit, Salz auf den Tisch zu stellen. Wenn sie fragt: »Schmeckt es?«, antwortet Dorothea mit »Ja«, bemängelt aber das fehlende Salz. Zu viel Salz sei ungesund, erklärt daraufhin die Mutter, erlaubt der Tochter aber trotzdem, den Salzstreuer zu holen.

Die beiden finden in einem sozialen Theater zusammen, ohne ihre Positionen aufzugeben. Vor allem die Mutter rette die Gemeinschaft, »indem sie trotz Differenzen den Geschmack ihrer Tochter akzeptiert«, erklärt Audehm. Umgekehrt kann ein Ritual aber auch die Autorität eines Familienmitgliedes verdeutlichen: Obwohl alle drei Kinder der Familie Zobel Milch trinken, steht ausgerechnet die Kaffeekanne mitten auf dem Tisch, und nur der Vater fasst sie an - ein Zeichen für seine Autorität.

»Das Schöne an den Ritualen ist, dass man nicht an sie glauben muss«, sagt der Indologe Axel Michaels, Sprecher des Sonderforschungsbereichs Ritualdynamik an der Universität Heidelberg, »man muss sie einfach nur machen.« Deshalb ist es auch für viele ungläubige Jugendliche selbstverständlich, zur Konfirmation oder zur Firmung zu gehen. »Auch bei einer Hochzeit müssen die Eheleute nicht an die ewige Liebe glauben, damit das Ritual gültig ist.«

Der französische Ethnologe Christian Bromberger sieht selbst im allwöchentlichen Besuch eines Fußballstadions ein gemeinsames Erleben, das die »Kontinuität des kollektiven Bewusstseins« sichert.

So tief ist das rituelle Bedürfnis des Menschen, dass manche Wissenschaftler sogar einen biologischen Hintergrund vermuten. Der angesehene Züricher Altphilologe Walter Burkert etwa spekuliert über Analogien zum Tierreich: Wenn beispielsweise eine Eidechse einem Verfolger ihren Schwanz opfert, erkennt Burkert darin ein »Teil-Opfer um des Überlebens willen, in einer Situation von Verfolgung, Gefahr und Angst«, ähnlich einem Reisenden in Afrika, der während einer Bootsfahrt in einen Sturm geriet. »Da begann der wohlhabende Passagier, Dollarnoten in die aufgewühlten Wellen zu werfen.« Der ängstliche Mann habe in magischer Absicht das Eidechsen-Schema übernommen.

Menschen brauchen Rituale, das zeigte sich umso deutlicher, nachdem die 68er in Westdeutschland erfolgreich gegen Traditionen und Bräuche aufbegehrt hatten. Nach Abschaffung der Talare wurden Diplomzeugnisse und Promotionsurkunden einfach mit der Post zugestellt. Das war zwar antielitär, aber unpersönlich. Und so begingen im Juli 2005 erstmals wieder 700 Studenten der Universität Bonn in Talar und Barett auf der Hofgartenwiese feierlich ihre Abschlussfeier. Und wer kennt nicht die Geschichten von befreundeten Paaren, die trotz aller religiöser Skepsis in der Kirche heiraten? »Weil's so feierlich ist!«

»Die Kraft der Rituale zeigt sich besonders deutlich in den Kulturen des Rausches«, sagt Henrik Jungaberle, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Medizinische Psychologie der Universität Heidelberg. »Warum führt der Drogenkonsum manche Menschen in die Verelendung, während andere Gelegenheits- oder Feierabendkonsumenten bleiben, die ein ganz normales, bürgerliches Leben führen?« Jungaberles Hypothese zufolge regulieren Rituale den Drogenkonsum.

Zehn Jahre lang werden er und seine Kollegen die Anhänger der auch in Deutschland wirkenden synkretistischen Santo-Daime-Kirche aus Brasilien erforschen, die den Genuss von Ayahuasca in das Zentrum ihres Kultes gestellt hat. Obwohl Ayahuasca als eines der stärksten Halluzinogene überhaupt gilt und schwerste Nebenwirkungen entfalten kann, landen seine Konsumenten selten in Drogenkliniken. Ein Grund könnte sein, vermutet Jungaberle, dass die typische Ayahuasca-Session streng ritualisiert in einer Gruppe abläuft.


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“Yo Alder!“ Ein Begrüßungsritual schafft Gemeinschaft und schließt andere demonstrativ aus

Die Ergebnisse der Heidelberger Studie könnten helfen, die regulierende Kraft der Rituale auch für den Umgang mit anderen Drogen zu nutzen. »Rauscherlebnisse zu kultivieren, statt sie auszugrenzen, sollte im Interesse aufgeklärter Gesellschaften sein«, sagt Jungaberle. »Und dafür brauchen wir Rituale.«

»Kirchliche Rituale und politische Zeremonien können auch Demonstrationen von Macht sein«, analysiert Lorelies Singerhoff in ihrem Buch. »Sie wirken dadurch, dass sie ihre Zuschauer emotional anrühren und in ihren Bann ziehen. Die an rituellen Handlungen teilnehmenden Menschen glauben an die Notwendigkeit und die Funktion der Rituale und erzeugen auch durch ihren Glauben deren Wirkungen.«

Rituale können überdies Menschen helfen, in der Gesellschaft zu bestehen. Sie halten die Gemeinschaft zusammen, müssen sich aber den Zeitläuften anpassen. Nur wenige Riten überstehen die Jahrhunderte einigermaßen unverändert wie das beispielsweise die Zeremonien der katholischen Kirche geschafft haben.

»Rituale gehen eine Zeit lang gut, werden dann aber immer wieder infrage gestellt«, sagt der Indologe Axel Michaels. Sie können hohl werden, wenn wie im Wahlkampf nur noch Phrasen gedroschen werden. Sie können die Verhältnisse zementieren, wenn wie früher in Irland zu jeder Demo rituell eine Gegendemo aufgefahren wird. Sie können aber auch etwas in Bewegung bringen. Man denke nur an die Lichterkette, die 1992 erstmals auf einer Demonstration gegen Ausländerfeindlichkeit und Rechtsradikalismus in München gebildet wurde, sagt Michaels. »Die gehört mittlerweile auf fast jede Demo.«