Eine Chance hatten sie nie

(Chrismon)



Fanta Sangare (Mitte) stammt aus dem westafrikanischen Mali und lebte selbst unfreiwillig in Polygamie. Als Vorsitzende des Vereins Femmes Relais Bobigny kämpft sie 1996 für die Rechte afrikanischer Einwandererfrauen.

 

Carla Bruni, die Frau des französischen Staatspräsidenten, hat gesagt, dass sie Monogamie eher langweilig finde. Sangare: Naja, die lebte ja eher in Vielmännerei. Zudem war sie frei, konnte sich ihre Situation wählen, hatte genug Geld, eine eigene Wohnung. Das können Sie nicht mit der Polygamie hier in den Vorstädten von Paris vergleichen.

Könnte es sein, dass auch hier Männer und Frauen bewusst die Lebensform der Polygamie vorziehen?

Sangare: Es mag einige Frauen geben, die lieber einen Mann mit anderen Frauen teilen, als überhaupt keinen zu haben. Das gibt ihnen Sicherheit für sich und ihre Kinder. Aber eine freie Wahl würde ich das nicht nennen. Tatsächlich passt die Polygamie vor allem den Männern: Sie spielen den Hahn im Korb, immer kümmert sich jemand um sie. Und sie kassieren ab – je mehr Frauen, desto mehr Kinder; je mehr Kinder, desto mehr staatliche Unterstützung.

Worunter leiden die Frauen in polygamen Beziehungen am ehesten?


© Stefanie de Boutray
Die Sozialarbeiterinnen bringen den Analphabetinnen Lesen und Schreiben bei und machen Ausflüge, etwa in zur Bibliothek, ins Rathaus oder zu den Schulen ihrer Kinder.

Sangare: Unter dem Platzmangel. Wenn Sie in einer Drei-Zimmerwohnung mit zwei Nebenfrauen leben und jede von ihnen hat mindestens drei oder vier Kinder, dann haben Sie ein Problem. Oft hat nicht einmal jede Frau ein eigenes Zimmer für sich und ihre Kinder. Der Mann besucht die Frauen reihum, gerade wie es ihm gefällt. Häufig sind die Eheleute dann hinter einem Vorhang zu Gange und die Kinder kriegen alles mit. Die Frauen kochen jeweils für ihre eigenen Kinder, müssen sich aber Teller, Töpfe, Herd und Kühlschrank teilen. Beim Duschen fehlt heißes Wasser; die Toilette ist immer besetzt. Es fehlt an Platz für die Hausaufgaben und zum Spielen. Wenn die Kinder von der Schule kommen, schicken ihre Eltern sie wieder nach draußen, wo die Gefahr besteht, dass sie Banden bilden, Kämpfe ausfechten oder gar mit Drogen handeln. Hinzu kommt, dass in den Familien meist der Mann das Geld verwaltet. Oft haben die Kinder nichts zu essen im Kühlschrank, weil ihr Vater für eine weitere Hochzeit spart oder für ein Haus im Heimatland.

Funktioniert die Polygamie in Afrika besser?

Sangare: Dort wählen die meisten Frauen zwar auch nicht freiwillig die Polygamie als Lebensform. Aber zumindest gibt es dort genug Platz. Da hat eine Frau ein eigenes Haus oder Hof und wenn sie keine Lust hat, mit den anderen Frauen zu sprechen, dann lässt sie es eben bleiben.

Gibt es auch so etwas wie Solidarität unter den Frauen?

Sangare: In den seltensten Fällen. Meist herrscht eher eine grausame Konkurrenz. Ich habe den Fall einer Frau erlebt, deren Nebenfrau sie mit heißem Öl übergossen hat. Sie ist bis ans Ende ihrer Tage mit Brandnarben gezeichnet. Eine andere hat hier in Bobigny ihrer Nebenfrau ein Stück Lippe abgebissen und weggeworfen. Die Familie musste danach suchen und konnte sie wieder annähen lassen.

Wie verstehen sich die Kinder untereinander?

Sangare: Die Konkurrenz der Frauen um den Mann setzt sich oft unter deren Kindern fort. Sie beschimpfen und prügeln sich. Neulich warf in einer Familie ein Mädchen mit klatschnasser Wäsche nach der Nebenfrau ihrer Mutter. Die regte sich so auf, dass sie das Kind mit dem Messer bedrohte. Die Mutter rief mitten in der Nacht bei mir an und ich musste sie am Telefon beruhigen.

Schildern Sie jetzt Standardsituationen?

Sangare: Das ist Alltag. Wollen Sie ein Extrembeispiel hören?

Bitte.


© Stefanie de Boutray
Ein Nähkurs soll die Frauen finanziell unabhängiger machen und sie darauf vorbereiten, nach dem Auszug aus der Wohnung des Ehemanns ein eigenständiges Leben zu führen.

Sangare: Die Leiterin eines Gesundheitszentrums hatte mich um Mithilfe gebeten, weil bei einer Routineuntersuchung ein beschnittenes Mädchen in einer malinesischen Familie entdeckt worden war. Die Familie stritt alles ab und sagte, wenn das Mädchen tatsächlich beschnitten sei, müsse dies das Werk des Teufels sein. Weil ich nicht von einer staatlichen Institution kam und ebenfalls aus Mali stamme, fand ich Zugang zu der Familie. Ich entdeckte, dass der Mann mit vier Ehefrauen und 46 Kindern in vier Schlaf- und einem Wohnzimmer lebte! Vor meiner Zusammenarbeit mit der Familie hatten sich diese völlig abgeschottet: Die Frauen sprachen kein Französisch und waren komplett isoliert. Die Kinder gingen nicht in Ferienlager, machten ihre Hausaufgaben nicht, sondern trieben sich herum.

Was machen in einem solchen Fall eigentlich die Lehrer?

Sangare: In diesem Fall verstanden sie überhaupt nicht, was vorging. Wenn die Lehrer die Eltern in die Schule bestellten, kam jedes Mal eine andere Mutter. Das ist zum einen üblich, weil in afrikanischen Gesellschaften Kinder eher zum Familienclan als nur zur biologischen Mutter gehören - Großmutter, Geschwister oder Cousins fühlen sich ebenfalls verantwortlich. In Afrika heißen die Nebenfrauen deshalb Schwester, und das Kind meiner Schwester ist auch mein Kind.

Wobei Sie aber eben auch die Konkurrenz beschrieben haben.

Sangare: Genau, das führte auch in dieser Familie zu Komplikationen, weil die Mütter ihre Konkurrenz auch auf den Rücken der anderen Kinder austrugen. So machte eine Mutter schon mal ein Kind der Nebenfrau in der Schule schlecht. Wie soll ein Lehrer solche Verhältnisse überblicken?

Dennoch bleibt die Frage, wie verbreitet Polygamie in Frankreich ist?

Sangare: Einer Studie des Institut Montaignes zufolge leben 40 bis 50 000 Familien polygam – rechnet man pro Familie zehn Kinder kann man davon ausgehen, dass etwa 400 000 bis 500 000 Kinder betroffen sind. Aber ich denke, es sind noch mehr. Hier in der Vorstadt Bobigny leben sehr viele afrikanische Familien in Polygamie, wobei die Frauen eines Mannes nicht immer in einem Haushalt leben. Aber es ist schwierig, verlässliche Zahlen zu bekommen. Die Frauen sagen es nicht offen, zumal wenn sie keine gültigen Papiere haben und erst recht nicht, wenn sie keine Kinder haben.

Sie haben selbst Ihren Mann mit anderen Frauen teilen müssen. Wie konnte es dazu gekommen?

Sangare: Mein Mann hatte mir vor unserer Hochzeit in Mali geschworen, dass er monogam mit mir leben würde. Wir hatten einen Vertrag aufgesetzt und unterschrieben. Da ich zunächst nur drei Mädchen auf die Welt brachte, er aber einen Jungen als Stammhalter wünschte, hat er sich dennoch ein weiteres Mal verheiratet. Das war zu viel für mich, deshalb wollte ich mich scheiden lassen.

Und das haben Sie geschafft?

Sangare: Ja, weil ich mich 1991 nach Frankreich abgesetzt habe. Als Reisegrund hatte ich vorgeschoben, meinen Vater zu besuchen. Der besitzt die französische Staatsbürgerschaft, so dass auch ich als Französin gelte und auf diplomatischen Wege 1997 von Frankreich aus die Scheidung erreicht habe. In Afrika wäre Polygamie kein Scheidungsgrund.

Was haben Sie mit Ihren Kindern gemacht?

Sangare: Ich konnte am Anfang nur meine beiden jüngsten Kinder mitnehmen, meine dreijährige Tochter und meinen einjährigen Sohn, den ich dann doch noch in Mali bekommen hatte. Meine beiden älteren Mädchen habe ich erst 2000 nachgeholt. Sie sind jetzt 25 und 28 Jahre alt.

Und wie haben Ihre zwei älteren Töchter sich hier eingelebt?

Sangare: Das war anfangs hart. Natürlich ist der kulturelle Unterschied groß, aber die Mädchen sind im Mali in der Stadt aufgewachsen. Heute haben beide gute Jobs: die eine ist Polizistin, die andere arbeitet bei der Post. Inzwischen bin ich mit einem Franzosen verheiratet und habe noch einen weiteren Sohn, der jetzt schon 14 Jahre alt ist und auf die École militaire geht. Ich bin zufrieden.

Warum folgen Ihrem Beispiel nicht mehr Frauen?

Sangare: Mir gelang dieser Schnitt, weil auf eigenen Beinen stehe. Ich habe im Mali eine Ausbildung als Buschlehrerin gemacht und in Frankreich eine zur Sozialarbeiterin, die es mir erlaubt ordentlich zu leben. Ich weiß um meine Rechte und kann mich wehren. Die Frauen hingegen, die zu uns kommen sind meist irgendwo in Afrika auf dem Land aufgewachsen. Und je ungebildeter, desto ängstlicher sind sie. Diese Frauen schaffen die Trennung von Ihrer Familie meist nicht sofort. Das braucht Zeit. Nehmen wir das Beispiel der Familie mit den 46 Kindern. Da habe ich zehn Jahre gebraucht, um zumindest zwei der vier Frauen zum Absprung zu bewegen.

Warum ist dieser Ablöseprozess so schwierig?

Sangare: Viele bekommen Depressionen, wenn sie alleine mit ihren Kindern wohnen. Und wenn eine Frau ihren Mann verlässt, macht ihr meist nicht nur die afrikanische Gemeinschaft vor Ort, sondern auch die Familie in der Heimat enormen Druck. Denn wenn sie mit ihrer Familie in Frankreich bricht, riskiert sie oft, dass auch die Familie in Afrika ausgegrenzt wird.

Häufig geht die Frau deshalb einen Kompromiss ein und sagt sich: Wenn ich erst mal in meinen eigenen vier Wänden wohne, ist es nicht so schlimm, wenn mein Ehemann weiter vorbei kommt, die Kinder besucht und gelegentlich mit mir schläft, dafür aber etwas Geld zahlt.

Was kann ihre Organisation tun?

Sangare: Zu erst einmal müssen wir ja überhaupt mitbekommen, dass wir mit einer polygamen Familie zu tun haben. Die Leute verstecken sich, weil sie Angst haben. Wenn die Behörden das mitbekommen, sind er und seine erste Frau ihre Papiere los. Und ohne Aufenthaltsgenehmigung gibt es kein Kindergeld. Das ist für viele eine wichtige Einkommensquelle, wenn nicht die wichtigste.

Wie kriegen Sie es mit?

Sangare: Meist haben wir wegen irgend welcher anderer Misstände mit den Familien zu tun. Oder sie kommen auf uns zu, weil wir bei Behördengängen helfen sollen, vielleicht, weil sie ein Kind bekommen haben und wollen, dass ich es mit ihnen im Rathaus anmelde. Die Frauen erzählen mir dann, sie seien alleine nach Frankreich gekommen und bei einem Onkel untergebracht. Oder sie geben mir die Adresse ihres Mannes und sagen, es sei ihr Cousin oder ihr Bruder. Das kann ich nicht überprüfen. Ein oder zwei Jahre später, nach vielen Gesprächen stellt sich dann oft heraus, dass sie in Polygamie leben.

Wie können Sie dann helfen?

Sangare: Die Frauen müssen vor allem raus aus ihrem alten Umfeld und dafür benötigen die Frauen eine andere Anschrift, schon damit ihre Post nicht mehr an den gemeinsamen Haushalt geht. Danach versuchen wir, eine neue Wohnung zu finden, wobei bei den üblichen Einkommensverhältnissen nur Sozialwohnungen in Frage kommen, von denen es leider viel zu wenige gibt. Wer in der Gemeinde eine Sozialwohnung beantragt, muss ungefähr fünf Jahre warten. Auf dem privaten Wohnungsmarkt wiederum benötigt man eine Bürgschaft, Lohnabrechnungen, einen möglichst unbefristeten Arbeitsvertrag.

Haben Sie Erfolg?

Sangare: Wir machen als Sozialarbeiter, was wir können. Ich bin immer ansprechbar. Wenn alle Stricke reißen, nehme ich auch mal vorübergehend jemanden bei mir zuhause auf. In einem Winter kam eine im siebten Monat schwangere Frau aus Mali in mein Büro, sie war von zuhause weggelaufen und schon seit Monaten auf der Straße - schrecklich schmutzig. Da das Obdachlosenheim voll war, habe ich sie erst mal bei mir übernachten lassen. Sie konnte etwas essen, sich baden und ich habe ihr ein Kleidungspaket geschnürt. Dann habe ich sie in ein Frauenhaus gebracht. Für mich war das ein Schock. Die Frauen gehen in der Tat ein großes Risiko ein, wenn sie mit ihrer Familie und ihrer kulturellen Gemeinschaft brechen.


© Stefanie de Boutray
Die erwachsenen Schülerinnen freuen sich, wenn sie gelernt haben, wie sie korrekt einen Sozialwohnungsantrag ausfüllen oder wie sie am besten ein Bankkonto eröffnen und eigenständig Kindergeld und Sozialhilfezahlungen verwalten.

Bereuen manche Frauen, dass sie gegangen sind?

Sangare: Ja, ich betreue derzeit eine Frau, die sich scheiden ließ und die wir seit über einem Jahr mit drei Kindern in einem Hoteluntergebracht haben. Sie hat sich auf unser Anraten hin eine Arbeit besorgt, doch seit sie eine Teilstelle als Putzfrau hat, will ihr das Sozialamt nicht mehr das Hotel zahlen. Wir finden aber zur Zeit keine Wohnung für sie, die sie bezahlen kann, zumal sie wegen der Kinder nicht voll arbeiten kann. Die Frau jedenfalls sagt mir jetzt, sie hätte lieber weiter bei ihrem gewalttätigen Mann in Polygamie gelebt, als Angst davor haben zu müssen, mit ihren Kindern auf der Strasse zu landen. Mir ist das peinlich. Aber eigentlich sollte das dem Staat peinlich sein, der zu wenig Sozialwohnungen baut!

Was sonst könnte der Staat zur Lösung des Problems der Polygamie beitragen?

Sangare: Immerhin ist seit 1993 die Polygamie verboten; der Staat kann polygamen Familien die Aufenthaltsgenehmigung entziehen. Davor waren polygame Ehen auch vor dem Staat rechtskräftig. Das hieß, wenn junge Afrikanerinnen von ihren doppelt so alten Ehemännern als Zweit- oder Drittfrauen nach Frankreich geholt wurden, mussten diese erst vor Gericht ziehen, um sich scheiden zu lassen.

Was hat sich für die Frauen seit dem Verbot der Polygamie geändert?

Heute bringen die oft Frauen ein Kind in Frankreich zur Welt, das Kind bekommt automatisch die französische Staatsbürgerschaft und der Staat kann die Mutter nicht ausweisen.

Wie geht es dann weiter?

Die Frauen fordern dann eine eigene Wohnung, gehen arbeiten, können sich emanzipieren. Und dann suchen sie sich meist auch einen anderen Mann. Sie sagen sich: was soll ich mit so einem unliebsamen Knochen?

Wieso schreitet der französische Staat trotz des Polygamieverbots nicht öfters ein?

Es hapert leider noch immer noch an der Umsetzung des Gesetzes.: Die Beamten können ja nicht von Tür zu Tür gehen und die Leute fragen, ob sie polygam sind.

Andererseits: Wenn ein Vater im Abstand von zwei Monaten Nachwuchs anmeldet, könnten die Beamten schon mal hellhörig werden!