Hellwach durchs Leben

(Apothekenumschau)

Vom  Kindergarten bis zum  Altersheim: Fit im Kopf bleibt nur, wer seine Hirnzellen genauso trainiert wie seine Muskeln

Sebastian mag die Fünf, weil er genau so alt ist; Anja zieht die Eins vor, weil die immer die erste ist; Klara liebt die Zwei, weil die im Zahlenbuch so schön gelb ist:  Im Kindergarten Unterföhring 1 bei München sind Zahlen seit kurzem fast so beliebt wie Kuscheltiere.


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„Wer muss sich mit wem zusammen tun, damit alle fünf Steine haben?", fragt Erzieherin Olivia  Stiegeler, 49, die  Kinder, die vor ihr in der Turnhalle zwischen Gummibällen und Sprossenwand kauern.  Eifrig rutschen sie hin und her  bis alle den richtigen Partner gefunden haben. Sebastian angelt seine zwei Steine aus dem blauen Baumwollsäckchen und schiebt sie zu den drei Kieseln, die  Marvin vor seinen Knien getürmt hat. „Fünf!" jubelt er. 

Was aussieht wie ein Kinderspiel, gehört zu einem Trend, der überall an Bedeutung gewinnt, seitdem PISA Deutschland erschüttert hat. Immer mehr Menschen wird immer klar, dass Lernen ein lebenslanger Prozess sein kann. Sie werden bestätigt von den Neurowissenschaftlern, die unter anderem mi Hilfe der modernen bildgebenden Verfahren wie PET oder fMRT immer besser verstehen, wie das Gehirn arbeitet: Bereits Dreijährige können eine Fremdsprache erlernen, Erwachsene sollten an Charakter und Intellekt feilen, damit sie noch als Senioren lange geistig fit bleiben. Langsam sickert ins öffentliche Bewusstsein, dass Wissenschaftler für jedes Lebensalter Strategien entwickelt haben, wie man seine grauen Zellen  am besten trainiert. Man muss es nur tun!

 

Frühe Übung, kleine Meister

Deshalb beteiligt sich der Unterföhringer Kindergarten an einem  Projekt des Freiburger Didaktikers Gerhard Preiss: "Komm mit ins Zahlenland" taufte dieser sein Konzept, bei dem kleine Kinder mit Geschichten, Abzählreimen,  Liedern und Basteln den Zahlenraum von eins bis zehn spielerisch erkunden.

Kinder kommen nicht mit einem leeren Kopf zur Welt, der erst in der Schule  mit  Fakten gefüllt werden muss. Lernen beginnt im Mutterleib. Bereits im siebten Monat unterscheiden Föten akustische Reize.  Von  Geburt an ist ein Kind eine hochmotivierte Lernmaschine, die mit rasender Geschwindigkeit die  Welt erobert. Schnell vernetzen sich die Nervenzellen des Hirns über die  so genannten Synapsen, bis am Ende des zweiten Lebensjahres ein Höhepunkt erreicht ist. Dann beginnt eine kritische Phase: Vom 3. bis zum 6. Lebensjahr lichtet sich der Synapsen-Dschungel  und gewinnt an Struktur. Je nach Nutzung verstärken sich manche Verbindungen, andere verkümmern.

"In dieser Zeit werden prägende neuronale Netze angelegt, die das ganze Leben lang wirksam bleiben", warnt Preiß. "Nutzt man diese Zeit nicht, so entwickeln sich einige Anlagen nicht mehr optimal." Deshalb plädiert der Neuro-Didaktiker für Frühförderprogramme, mit  dem Kinder die mathematische Sprache ähnlich mühelos erwerben könnten wie die mindestens so komplizierte  Muttersprache. Mittlerweile haben Hirnforscher  Zeitfenster ausgemacht, in dem Kinder  bestimmte Fähigkeiten besonders leicht erlernen:

  • Das Bewegungslernen beginnt bereits in der Schwangerschaft und festigt sich meist automatisch bis zum 4. Lebensjahr.
  • Sprachen lernt man am besten  bis zum 4. Lebensjahr. Nach der Pubertät erlernen nur noch Ausnahmetalente eine Fremdsprache akzent- und fehlerfrei.
  • Ein Instrument erlernt man am leichtesten zwischen dem 3. und 10. Lebensjahr. Früher Musikunterricht fördert  auch das logische Denken.

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Gelungene Frühförderung bedeutet, spielerisch auf die natürliche Wissbegierde von Kindern einzugehen. Sie lernen bereitwillig, weil es ihnen hilft, sich besser an ihre Umwelt anzupassen.

Verheerend wäre es jedoch, wenn Eltern Leistungsdrill im Kinderzimmer fordern. Denn es lernt nur, wer motiviert ist – und Kleinkinder sind von Natur aus motiviert. Eltern und Erzieher sollten den Kindern  spannende Angebote machen, aus denen sie frei wählen können. Der Lernstoff sollte Augen, Ohren, Nase und Tastsinn ansprechen und in Bezug zur Kinderwelt stehen.

Fachleute weisen zudem darauf hin, dass Fehlermachen zur Lernentwicklung gehört und die Kleinen Zeit benötigen, Dinge selbst auszuprobieren. "Wenn Kinder viele kleine Erfolge erringen, wenn man ihnen das Gefühl gibt, klüger zu werden, dann macht ihnen das Lernen auch  Spaß", sagt Psychologin Elsbeth Stern vom Berliner Max-Plank-Institut für Bildungsforschung.

 

Knochenarbeit am Hirn

Eine anregende und emotional positive Umgebung kann sich auf Kinder enorm auswirken. Denn Intelligenz ist nicht  komplett angeboren. Vermutlich liegt der ererbte Anteil bei 50 Prozent, wenn man sie so definiert, wie es Psychologen klassischerweise tun, um den so genannten IQ mit Hilfe von Tests zu ermitteln: Intelligenz sei das Vermögen eines Menschen, zu verstehen, zu abstrahieren und Probleme zu lösen, Wissen anzuwenden und Sprache zu gebrauchen. Erst um das zehnte Lebensjahr festigt sich der so beschriebene IQ als  ein  Ergebnis der   Wechselwirkung von Genen und Umwelt.

Was möglich ist, belegte eine Studie des Londoner Entwicklungspsychologen  Michael Rutter, der das Schicksal von 110 vernachlässigten rumänischen Waisenkindern verfolgte, die nach dem Sturz des Ceausescu-Regimes nach England adoptiert wurden: Der durchschnittliche IQ der Gruppe stieg dramatisch von 63 auf  107 Punkte!

Wer erst als Erwachsener einen IQ-Test macht und – vom Ergebnis erschreckt – etwas für seine grauen Zellen tun will, muss andere Wege beschreiten. Der klassische IQ-Wert gilt bei Erwachsenen als stabile Eigenschaft.  Verzweiflung ist dennoch nicht angebracht. Zum einen lässt sich ein niedrigerer IQ-Wert  durch Vorwissen und Üben kompensieren Hinzu kommt, dass viele Forscher bezweifeln, dass der klassische IQ überhaupt zuverlässig  Erfolg in  Beruf und  Leben voraussagt. Brauchbar sei er für das abstrakts Problemlösen etwa an der Universität. Wer aber als Manager gut auftreten, als Chef sein Team motivieren oder als Ingenieur  in der Produktion  schnell mal improvisieren muss, der benötige ganz andere Fähigkeiten.  Ähnliches gelte für musische und kreative Berufe oder die Frage, wie man seine Familie managt.

Das war der Grund, wieso der Psychologe  Howard Gardner von der Universität Harvard Mitte der 80er Jahre forderte, sieben Arten der Intelligenz  zu unterscheiden: sprachliche, musikalische, logisch-mathematische, räumliche, körperlich-kinästhetische, interpersonale und intrapersonale Intelligenz.  In eine ähnliche  Richtung ging der Versuch von Gardners Kollegen Daniel Goleman, eine emotionale Intelligenz zu umreißen, die vom richtigen Gebrauch der Gefühle handelt.

Zwar bleibt unstritten, ob man hier immer von Intelligenz reden muss, oder ob Gardners Aufteilung nicht viel mehr von allgemeinen Lebenskompetenzen handelt. Die gute Nachricht  jedenfalls lautet, dass es sich  zum Teil um Persönlichkeitseigenschaften handelt, an denen man auch als Erwachsener noch  feilen kann. Langzeitstudien und  Ergebnisse aus den Laboren der Neurowissenschaftler widerlegen das Dogma, wonach mit der Pubertät der Charakter zementiert sei. 

Mit den modernen bildgebenden Verfahren haben Forscher schon längst die andauernde Plastizität – Formbarkeit - des Hirns nachgewiesen und belegt, wie Psychotherapie das Gehirn verändert. Deshalb forderte der kürzlich verstorben Theapieforscher Klaus Grawe. "So wie man einen Muskel erst wieder aufbauen muss, wenn man  wochenlang im Krankenbett gelegen hat, muss man auch für neue synaptische Bahnen üben."

Diese Einsicht gilt für alle Veränderungsprozesse im Hirn: Wer  seine Schüchternheit abbauen oder seine Gelassenheit stärken, sein Gedächtnis verbessern oder eine neue  Sprache lernen will, der muss in der realen Welt trainieren. Es reicht nicht, einen Ratgeber zu lesen. Anders als beim Kleinkind, geschieht das beim Erwachsenen nicht mehr spielerisch: Lernen beim Erwachsenen ist Knochenarbeit am Hirn. Da gilt es einiges zu beachten.

  • Spaß und Motivation ist genauso wichtig wie im Kindergarten:  Es ist fruchtlos, seinen Ehepartner gegen seinen Willen in einen Sprach- oder  Computerkurs zu drängen.
  • Umzüge und Berufswechsel sind  auch  Chancen.  Wenn man sich ändern will, geht das leichter im neuen Kontext.
  • Die Rückmeldung anderer Menschen ist wichtig:  Wenn  alle schon eine feste Meinung  über einen haben, ist es schwierig,  sich zu  verändern. Das spricht dafür, den Kurs "social skills"  nicht mit den Kollegen  bei der betrieblich Weiterbildung zu buchen, sondern bei der VHS.

Nichts machen, gilt nicht. Wir leben nämlich  immer länger, dennoch lässt die geistige Schnelligkeit wie eh und je  ab dem 25. Lebensjahr nach. Neu ist die Einsicht, dass man vieles dagegen tun kann. Die wichtigste Handlungsanleitung der  modernen  Hirnforschung lautet hier: "Use it or loose it.!"

"Man muss seinen Geist quälen", fordert Psychogerontologe Wolf-Dieter  Oswald von der Universität Erlangen.  Es genüge nicht, Gedichte auswendig zu lernen, man müsse selber aktiv und kreativ werden, zum Beispiel nach der Zeitungslektüre die Meldungen in eigenen Worten zusammenfassen. Eine solche Übung beuge  sogar Alzheimer vor. Oswald ist  auch der Erfinder des so genannten  SIMA-Trainings (Selbststän-digkeit im hohen Alter), einem  Programm, bei dem  Gedächtnistraining mit körperlicher Aktivität vereint wird. Denn auch Ausdauersport scheint dem Wachstum von Nervenzellen zu dienen, die beim Erinnern helfen.

 

Der lange Weg zur Weisheit

 "Um Stress zu vermeiden, sollte man sein Leben so früh wie möglich, vernünftig organisieren",  rät Paul Baltes,  Direktor des Berliner Max-Planck-Institutes für Bildungsforschung. "Gerade junge Erwachsene zwischen 30 und 40 stehen vor der anspruchsvollen Aufgabe, Beruf und Familie zu vereinbaren." Bereits ihnen empfiehlt er das von ihm so benannte SOK-Modell, um dauerhaft fit im Kopf zu bleiben: selektive Optimierung mit Kompensa- tion.

 Erstens müsse man aus den vorhandenen Lebensmöglichkeiten diejenigen auswählen, die man umsetzen wolle. Zweitens müsse man optimieren, also geeignete Mittel suchen, um das Gewählte möglichst gut zu tun. Drittens Kompensation: Wenn im Laufe des Lebens Mittel wegfallen, sollte man flexibel genug sein, um neue Wege zu suchen, um seine Ziele zu verfolgen.

„Es gelingt älteren Menschen überraschend gut, ihr Leben in einem immer engeren Umfeld und unter körperlichen Beeinträchtigungen so einzurichten, dass sie sich ein positives Selbstgefühl erhalten.

Sie regulieren ihr subjektives Wohlbefinden, indem sie ihre Erwartungen an die Realität anpassen.

So gehe es denjenigen besser, die sich zum Beispiel zuerst ein paar Jahre auf den Beruf konzentrieren und dann auf die Familie. Je älter man werde, um so wichtiger werde das SOK-Prinzip. Baltes zitiert gern das Beispiel des Klavierspielers Arthur Rubinstein, der zu seinem 80. Geburtstag  gefragt wurde, wie er es denn schaffe, immer noch als Konzertpianist zu brillieren. "Aus seinen Antworten lässt sich das SOK-Prinzip herauslesen", versichert Baltes. Er habe sein Repertoire verringert, also eine Wahl getroffen. Außerdem übe er die Stücke mehr als früher. Das ist die Optimierung. Und weil er die ausgewählten Stücke nicht mehr so schnell wie früher spielen konnte, hat er noch einen Kunstgriff angewendet: Vor besonders schnellen Passagen verlangsamte er sein Tempo; im Kontrast erschienen diese Passagen dann wieder ausreichend schnell. Das ist eine Form der Kompensation.

Wenn dann alles gut geht im Laufe so eines Lebens und man seine Persönlichkeit immer gut gepflegt hat, könne im  Alter so etwas wie Weisheit entstehen, eine Eigenschaft, die den Verlust an geistiger Schnelligkeit mehr als kompensiert. Ein wirklich weiser Mensch kennt sich aus mit der menschlichen Natur, mit Beziehungen, sozialen Normen, kritischen Lebensereignissen und ihren Folgen. Er weiß, wie man  Lebensentscheidungen trifft und mit Konflikten umgeht. Seinen Rat werden auch die Jungen suchen.


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Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans umso mehr - so sollte der Satz lauten. Geistig auf der Höhe sein und bleiben, kann man auch auch im höheren Alter trainieren, etwa mit einem Computerkurs.

Ob der Münchner Ex-Friseur Edy Pipka  mit seinen bloßen 60 Jahren schon weise ist? Zumindest kennt er die Unwägbarkeiten des Lebens, spätestens seitdem er eine Leukämie überstanden hat. Vor allem aber hat er die richtige Konsequenz gezogen und ist neugierig aufs Leben geblieben. Jetzt sitzt er mit sechs weiteren Männern und Frauen zwischen 60 und 75  im Münchner "Mediencenter 50 plus", um sich die weite Welt des Internets erklären zu lassen. Gerade proben sie, wie man per Mausklick einen zweiwöchigen Pauschalurlaub in Bali buchen würde.

Pipka jedenfalls hat jetzt einen DSL-Anschluss beantragt, das langsame Modem nervt, schließlich gibt es noch so viel zu entdecken auf der Welt.