Der Krieg ist der Vater aller Wirtschaft
(FAZ)
Wie die Vereinigten Staaten gegen deutsche Firmen und Staatsbürger in Lateinamerika kämpften
Deportierter Deutscher im US-Camp
Friedman hatte die Adresse Bohnenbergers im Telefonbuch der Stadt aufgespürt. Er wollte den Dreiundsiebzigjährigen als einen der letzten lebenden Zeitzeugen zu einem wenig bekannten Kapitel der jüngeren amerikanischen Geschichte befragen: der Deportation von in Lateinamerika lebenden deutschen Staatsbürgern während des Zweiten Weltkriegs.
Bohnenberger erzählte seine haarsträubende Geschichte. Obwohl er sogar die guatemaltekische Staatsbürgerschaft besaß und im Alltag kaum noch Deutsch sprach, wurde der damals Neunzehnjährige aus Quetzaltenango 1942 gemeinsam mit seinem Vater Otto auf Druck der Gesandtschaft der Vereinigten Staaten als gefährlicher ausländischer Staatsfeind für zwei Jahre in eine Militärbasis nach Florida deportiert und dann nach Deutschland abgeschoben. Bei einem alliierten Bombenangriff auf Göppingen kam Vater Bohnenberger ums Leben. Der Sohn kehrte nach Kriegsende verbittert heim nach Guatemala.
Die Geschichte des Gerardo Arturo Bohnenberger ist nur eine von mehr als viertausend. Sie steht für die Schicksale jener Deutschen, die auf der Flucht vor der Wirtschaftskrise oder den Nazis nach Lateinamerika gelangt waren, denen aber nach Kriegseintritt der Vereinigten Staaten im Dezember 1941 ihre Herkunft zum Vorwurf gemacht wurde.
Max Paul Friedman hat diese Schicksale erforscht. Er war bereits als graduierter Student an der Universität von Berkeley auf das Schicksal der Latinodeutschen gestoßen. Als er im amerikanischen Nationalarchiv in Washington nach einem Thema für seine Doktorarbeit stöberte, führten ihn Archivare in einen Raum, wo zweihundert noch nicht erschlossene Kartons mit FBI-Unterlagen, Akten und Briefen von deutschen Internierten lagerten. Ob ihn das interessiere?
Der Auswanderer Charley Hirtz schloß mit den ecuadorianischen Indianern Freundschaft. Aus Deutschland war er aber nicht vor den Nazis geflohen, wie er Buchautor Max Paul Friedman erzählte, sondern er verließ als ehemaliges NSDAP-Mitglied das Land nach dem Sieg der Alliierten
So begann eine sechsjährige Recherche. Mit kriminalistischer Energie spürte der junge Historiker mehr als vierzig ehemals Internierte sowie deren Angehörige auf. Auf der Grundlage ihrer Berichte setzte Friedman ein Mosaik jener Episode der amerikanischen Außenpolitik zusammen, das der offiziellen Aktenlage in vielen Aspekten widerspricht. Friedmans jetzt erschienenes Buch "Nazis and Good Neighbors" (Cambridge University Press, 2003) ist deshalb auch ein Kommentar zu den verheerenden Wirkungen einer gestörten Wahrnehmung bei außenpolitischen Akteuren. Wer dabei an aktuelle Geschehnisse erinnert wird, reagiert durchaus im Sinne des Autors: "Was derzeit in Guantánamo Bay auf Kuba passiert, ist ein bizarres Echo dessen, was sich vor mehr als einem halben Jahrhundert in Lateinamerika abgespielt hat", erklärt Friedman beim Gespräch im Historischen Seminar der Universität Köln, wo er derzeit als Gastwissenschaftler arbeitet.
Dabei sei die Nervosität der Amerikaner zu Beginn des Zweiten Weltkrieges nachvollziehbar gewesen. Die Engländer warnten die Vereinigten Staaten, nach dem deutschen Sieg über Frankreich könne die Luftwaffe von Dakar in der französischen Kolonie Senegal auf dem kürzesten Wege Südamerika angreifen. Überhastet plante die amerikanische Regierung die Operation "Pot of Gold": Hunderttausend Soldaten sollten in Brasilien stationiert werden. "Wir müssen die Nazi-Vorposten aufhalten", warnte Präsident Franklin D. Roosevelt und befahl den amerikanischen Botschaften und Konsulaten von Lima bis Havanna, schwarze Listen über deutschstämmige "gefährliche ausländische Staatsfeinde" zu erstellen.
Schnelles Eingreifen schien den Amerikanern nötig: In Guatemala sangen Schüler unter Hitlers Porträt
Die so Beauftragten machten sich mit mehr Enthusiasmus als Kenntnis an die Arbeit. In Bolivien zählte das FBI kurzerhand sämtliche 12 000 Deutsche als Hitlerfreunde - darunter rund 8500 Juden. In Kolumbien vermutete der amerikanische Geheimdienst fälschlicherweise, daß dort deutsche Einwanderer in geheimen Kampftruppen trainierten und versteckte Landebahnen für Nazi-Flieger bauten.
Angewiesen auf die Dolmetscher- und sonstigen Hilfsdienste der Lateinamerikaner, zahlten die amerikanischen Konsulate Prämien für alle Verdächtigen, die von den jeweiligen Einwanderungsbehörden gemeldet wurden: bis zu fünfzig Dollar pro Kopf. Der zuständige Beamte in Guayaquil/Ecuador entdeckte darin eine unverhoffte Einnahmequelle und machte per Federstrich siebenundfünfzig unbescholtene Deutsche zu NSDAP-Mitgliedern - ohne jede Grundlage, wie deutsche Dokumente zeigen, die Friedman gefunden hat. So fand sich etwa der jüdische Sozialdemokrat Max Brill auf einer Verdächtigenliste wieder. Und das, nachdem die Nationalsozialisten in Deutschland Brills Fabrik niedergebrannt und ihn ins Gefängnis gesteckt hatten. Ein Arbeitsloser, der auf die Prämie aus war, hatte wohl behauptet, Brills Sohn habe bei einer Autofahrt eine Hakenkreuzfahne verloren.
Zugleich wollten die Vereinigten Staaten nach Friedmans Einschätzung auch die wirtschaftliche Macht der deutschen Einwanderer brechen, die vor dem Krieg in Guatemala siebzig Prozent des Kaffeegeschäfts kontrollierten und zu den Eckpfeilern der Wirtschaft in Lateinamerika gehörten. Erst mit der Androhung eines Wirtschaftsembargos gelang es dem amerikanischen Außenminister (und späteren Friedensnobelpreisträger) Cordell Hull schließlich, Guatemalas Präsident Jorge Ubico zu bewegen, deutsche Unternehmer zu enteignen. Da war wenig geblieben von der sogenannten Good-Neighbor-Politik, mit der sich die Vereinigten Staaten verpflichtet hatten, sich nicht in die Angelegenheiten Lateinamerikas einzumischen. Mit bestem Gewissen hatte Washington beschlossen, daß es die Latinos vor den Deutschen schützen müsse.
In einer Nacht des Jahres 1943 standen deshalb Sicherheitskräfte vor der Tür des Unternehmers Hugo Droege in Guatemala - obwohl dieser bereits in den zwanziger Jahren vor der Arbeitslosigkeit in der Weimarer Republik geflüchtet und mit einer Kaffee- und Kardamonplantage reich geworden war. Droege wurde per Schiff nach New Orleans deportiert. Nach einjährigem Aufenthalt in einem texanischen Lager schickten ihn die amerikanischen Behörden gegen seinen Willen zurück ins Dritte Reich. Als er nach vier Jahren Trennung zu seiner Familie zurückkehrte, war seine Farm in Staatsbesitz übergegangen.
Washington ermutigte alle lateinamerikanischen Länder, deutsche Unternehmen zu zerstören. Die Vereinigten Staaten mit ihrem Kapital und Know-how konnten dann die Rolle der Deutschen übernehmen. So lasse sich erklären, meint Friedman, warum die 300 000 deutschen Staatsbürger in den Vereinigten Staaten die dortigen Behörden ziemlich gleichgültig ließen, während sie befürchteten, daß die Deutschen südlich des Rio Grande die Weltordnung gefährdeten.
Mehr als 4000 Deutsche mit unterschiedlichstem politischen oder ethnischen Hintergrund sperrte die US-Regierung ohne juristische Verfa hren in Container-Camps in der Wüste von Texas
Nur ein Prozent der Deutschen in den Vereinigten Staaten wurde interniert. Aus Costa Rica dagegen wurden zwanzig Prozent deportiert, aus Guatemala dreißig und aus Honduras mehr als fünfzig Prozent der dort bei Kriegseintritt der Vereinigten Staaten befindlichen Deutschen. Selbst das FBI mußte nach dem Krieg anerkennen, daß es nur bei acht der insgesamt 4058 Internierten glaubwürdige Beweise für Spionage gegeben hatte. Die akribischen Recherchen Friedmans ergaben, daß zum Beispiel von 247 internierten Deutschen aus Panama nur 21 NSDAP-Mitglieder waren, dreißig hingegen waren Juden, von denen fünf sogar in deutschen Lagern gesessen hatten.
Wenig berichten die offiziellen Dokumente von dem Leid, das die Deportationen verursachten. Vor allem die Briefe aus den Pappschachteln des amerikanischen Nationalarchivs zeugen vom Elend der auseinandergerissenen Familien. Der Jude Ernst Blumenthal etwa bat die Schweizer Gesandtschaft, sich dafür einzusetzen, daß seine kranke Frau Anneliese nachträglich ebenfalls interniert würde: Denn als Gattin eines Juden bekam sie keinerlei Unterstützung von der deutschen Vertretung in Kolumbien. Beide Blumenthals hatten vor ihrer Flucht nach Amerika in einem deutschen Konzentrationslager gesessen. Immerhin gehörte Blumenthal nicht zu jenen zwei Dritteln der Internierten, die bis 1945 gegen ihren Willen zurück nach Deutschland geschickt wurden.
Von tragischer Konsequenz war die Weigerung der amerikanischen Regierung, auf ein Geschäft einzugehen, das SS-Führer Heinrich Himmler angeregt hatte. Der stellvertretende amerikanische Außenminister Breckinridge Long verweigerte sich dem Angebot, Deutsche in Lateinamerika, die sich freiwillig zur Heimkehr "ins Reich" bereit erklärt hatten, gegen jüdische Gefangene auszutauschen. Ein Tagebucheintrag Longs belegt das Mißtrauen des Ministers gegenüber Juden: "Sie sind gesetzlos, intrigant, trotzig - und in vieler Hinsicht nicht einzugliedern ... Manche sind bestimmt deutsche Spione." Ein einziger Austausch gegen 136 Juden fand 1945 statt. Dabei hätten die Amerikaner auf diesem Weg wohl bis zu 30 000 Juden das Leben retten können.
Friedman zieht bewußt Parallelen bis in die Gegenwart. "Seit der Kolonialisierung bis heute verhalten sich die Vereinigten Staaten vor allem gegenüber Lateinamerika immer nach dem gleichen Schema. Sobald eine Gefahr auftaucht, seien es Deutsche, Kommunisten oder die Drogenmafia, fürchtet die Regierung, die lateinamerikanischen Nachbarländer könnten zu Marionetten werden, die unfähig sind, eigene politische Entscheidungen zu treffen, und zum Spielball von Fremdmächten werden."
Wissenschaft soll Wirkung zeigen, auch bei den Forschungsobjekten. In Ecuador etwa besuchte Friedman Charley Hirtz, der ihm mit leuchtenden Augen erzählte, wie er im zweiten Weltkrieg aus Deutschland ausgewandert war und mit den Indios im Dschungel Freundschaft geschlossen hatte, und ihm zum Beleg ein zerknittertes Schwarzweißfoto zeigte. Hemdsärmelig, in festen Stiefeln steht da der blonde Farmer plaudernd neben drei Indios im Lendenschurz. Auf keinen Fall habe er nach Deutschland zurückgewollt, sagte Hirtz. Der Historiker zog darauf die Kopie von Hirtz' NSDAP-Parteiausweis hervor. Der fragile Endachtziger brach das Gespräch ab. Menschlich, so sagt Friedman, habe er sich damals sehr schlecht gefühlt. "Aber wäre es besser gewesen, es hätte nie jemand nachgefragt?"