Sooo müde ...

(Focus Schule)

Viele Eltern unterschätzen die Bedeutung von Schlafstörungen bei Kindern und Jugendlichen. Dabei haben Wissenschaftler jetzt endgültig bewiesen: Nicht nur für das Leben, auch für die Schule schlafen wir

Mittlerweile haben auch der Mathe- und der Physiklehrer mitbekommen, dass Samira Pisasale, 14, es nicht persönlich meint, wenn ihr plötzlich der Kopf aufs Pult fällt und sie den Rest der Stunde verschläft. Schließlich passiert ihr das auch in Deutsch, und dieses Fach liebe sie, versichert die aufgeweckte Kölner Schülerin: "Da will ich eigentlich nichts verpassen."

Dennoch war es binnen weniger Monate so weit, dass Samira mehrmals pro Stunde einschlief.  Ihre MItschüler führten mit Filzstift eine Strichliste auf ihrer Hand - ein Strich bei jedem Einnicken - und rieben ihr Radiergummikrümel unter die Nase, um sie zu wecken. Ihr neuer Spitzname "Dornröschen" war nicht böse gemeint. Die engagierte und beliebte Schülerin war gerade erst zur Klassensprecherin gewählt worden. Schlimmer war, dass die Leistungen der einst guten Schülerin  binnen eines Jahres dermassen absackten,  dass ihre Versetzung gefährdet war.

Verpenntes Problem.  Erst vor kurzem diagnostizierten die Ärzte vom Schlaflabor der Kinderklinik Köln-Porz, dass Samira an Narkolepsie leidet, einer genetisch bedingten Störung, die zu Schlafattacken und  Tagesschläfrigkeit führt.  Typisch war die ratlose Reaktion ihres Klassenlehrers auf seine müde Schülerin: Er  ermunterte  Samira, ihr Pausenbrot zu essen und an die frische Luft zu gehen – die Eltern informierte er nicht. "Die warten so lange, bis das Kind in den Brunnen gefallen ist", ärgert sich heute die Mutter von Samira. Aber ihr selber waren die Probleme auch nicht aufgefallen.


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Viel zu früh klingelt der Wecker deutsche Schüler. Dabei mindert eine verkürzte Nachtruhe die Lernfähigkeit und schwächt das Immunsystem

Alfred Wiater, Chefarzt in Köln-Porz, kennt das Problem. "Die Kommunikation zwischen Eltern und Kindern funktioniert nicht", sagt der Experte für den Schlaf der jungen Jahre. In einer von ihm und dem Kölner Kinder- und Jugendpsychiater Gerd Lehmkuhl organisierten Befragung, gefördert von der Kölner Imhoff Stiftung klagten 35 Prozent der befragten Kinder und Jugendlichen über schlechten Schlaf und Müdigkeit, nur 23 Prozent der  Eltern wussten davon. Eine weitere Studie der Wiaters unter knapp   5000 Viertklässlern ergab, dass tatsächlich fast jeder vierte von ihnen auch nach medizinischen Kriterien unter Schlafstörungen leidet. Häufigste Ursachen: unkontrollierter Zugang zu Fernsehen und Videospielen vor dem Schlafen, Licht- und Lärmbelästigungen.  Egal ob Käpt´n Blaubär oder Terminator II, Nach hohem TV-Konsum träumen die Kinder verstärkt schlecht und erholen sich nicht ausreichend im Bett.

Nächtliche Nachhilfe. Das hat Folgen, die sich wahrscheinlich  auch im Zeugnis niederschlagen. Denn es geht nicht  allein um die Wachheit im Klassenzimmer. Ein paar Ratten in einem Labor der University of Arizona lieferten die ersten Hinweise, dass gesunder Schlaf wesentlich zum Lernerfolg beiträgt: Die Tiere erinnerten sich an den Weg durch ein Labyrinth besser, wenn man sie nach dem Training eine Nacht drüber schlafen läßt.

Mittlerweile hat ein Team um den Lübecker  Neuroendokrinologen Jan Born die physiologischen Prozesse dahinter auch beim Menschen aufgeschlüsselt. Demnach scheint jedes Schlafstadium eine eigene Aufgabe bei der Gedächtnisbildung zu übernehmen. Im leichten Traumschlaf übt das Hirn  motorische Abläufe wie Klavierspielen oder Fahrradfahren. Im Tiefschlaf  wandern französische Vokabeln, binomische Formeln und historische Daten ins Langzeitgedächtnis. Tagsüber hingegen hemmen Stresshormone das Abspeichern neuer Gedächtnisinhalte.

Ein gesunder Schlaf ist also wichtig für den Erfolg in der Schule. Dennoch sollten die Eltern nicht jede Einschlafschwierigkeit zum Drama aufbauschen, warnt Wiater. So sei es nicht ungewöhnlich, dass viele Kinder Angst vor der Dunkelheit beim Einschlafen haben oder etwa bis zum achten Lebensjahr schlafwandeln – und auch schon mal in den Schrank pinkeln. Bettnässen bringt  noch jeden fünften der Zehnjährigen in Verlegenheit. Selbst Jugendliche  leiden noch häufig unter Alpträumen. Das sind Entwicklungsprobleme, die meist von alleine verschwinden. Behandlungsbedürftig werden Schlafprobleme erst dann, wenn sie tatsächlich dauerhaft auftreten und die Lebensqualität  von  Kindern und Eltern beeinträchtigen.

Vier Jahre schlechten Schlaf hatte etwa  Nathalie Hochgref hinter sich, bevor sie mit ihrem sechsjährigen Sohn Julian im Kölner Schlaflabor auftauchte. Der Erstklässler hatte jede Nacht laut geschnarcht, wachte bis zu 15 Mal auf.  Mit  Elektroden beobachteten die Ärzte Hirnströme, Atemfrequenz und Muskelspannung und diagnostizierten  schließlich eine Schlafapnoe. Eine Schwellung hinter den Nebenhöhlen verursache plötzliche Atemstillstände. Jetzt kriegt Julian Cortisonspray.

Niklas erschreckte seine Eltern zum ersten Mal  beim Zelturlaub. Mitten in der Nacht fuhr er hoch, fuchtelte mit den  Armen und schrie: "Hilfe, lasst mich los, lasst mich los. " Der 13-Jährige ließ sich kaum beruhigen, konnte sich aber am  Morgen an nichts erinnern.  "Ihr spinnt", erklärte er seinen  Eltern. Als sich der Vorfall wochenlang bis zu fünf Mal in der Nacht wiederholte, schickte ihn der Kinderarzt ebenfalls ins Schlaflabor. Dort wurde ein Pavor nocturnus diagnostiziert, ein Nachtschreck, eine dramatische, aber meist ungefährliche Störung. Die Betroffenen werden im Schlaf plötzlich von einer Panikattacke gepackt – obwohl sie sich nicht in einem Alptraum befinden. "Das lässt mit zunehmenden Alter nach", beruhigte Arzt Wiater. Er gab den Eltern die üblichen Tips für eine gesunde Schlafhygiene mit, für die er nun neue Argumente hat  und neue Forderungen.


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Nächtliche Schlafstörungen treten bei Kindern häufiger auf. Tagsüber holen sie den Schlummer nach

Der frühe Schulbeginn um 8 Uhr, ist neurowissenschaftlicher Unsinn.  "Im Idealfall sollten die Kinder solange schlafen, bis sie von selbst ausgeruht aufwachen", sagt Wiater. "Jugendliche in der Pubertät kämen wahrscheinlich auf neun Stunden." Erst ab etwa neun Uhr könnten Schüler den neuen Lehrstoff wirklich aufnehmen. Und da es für das Gedächtnis so vorteilhaft ist,  wenn nach der Aufnahme von Information eine Schlafphase liegt, empfiehlt Jan Born Schülern außerdem einen Mittagsschlaf. "Morgens also aufnehmen und entschlüsseln und abends vor dem Schlafen dann diese Inhalte noch einmal für das eigentliche Einprägen repetieren".

Falsch wäre es jedoch, aus lauter Fürsorglichkeit Kinder und Jugendliche jeden Abend so früh wie möglich ins Bett zu stecken, warnt Wiater. "Wieviel Schlaf ein Kind benötigt ist konstitutionell bedingt." Schon in diesem Alter gebe es Frühaufsteher und Langschläfer, Lerchen und Eulen. Und außerdem gehöre ein gewisser Widerstand gegen die Regeln der Eltern zur Persönlichkeitsbildung. Deshalb findet Kinderarzt Alfred Wiater ganz normal, wenn Samira sich erst nachts um zehn unter die Dusche stellt und dann laut das Radio spielen lässt oder wenn Niklas mit der Taschenlampe heimlich unter der Bettdecke liest.