Rosskur unter Palmen

(Focus)

Deutsche Patienten und westliche Wissenschaftler entdecken das Potenzial der indischen Medizin. Warum fernöstliche Heilverfahren im Westen boomen und was wir von ihnen lernen können


© Andrea Schuhmacher
Drogenküche Pflanzenchemiker K.S. Laddah von der Universität Bombay analysiert indische Heilkräuter
Die härteren Maßnahmen sind für später geplant, und so fällt es dem Außendienstler Mirko  Glutsch*  aus Ulm an diesem luftigen Sommertag überaus leicht, das hohe Lied des Ayurveda zu singen: „Das isch wie im Himmel!" Glänzend vor Öl, sitzt der hagere Schwabe im Lendenschurz auf einer Holzpritsche im gekachelten Behandlungsraum des Ayurveda-Resorts „Nikki's Nest" im südindischen Bundesstaat Kerala und lässt sich von zwei Fachkräften durchwalken.

Vor der Behandlungshütte wiegen sich Kokospalmen, Habichte kreisen in der Luft, und an den Uferfelsen braust der Indische Ozean. „Das isch der Urwald", meint der Mittvierziger mit dem Ländle-Akzent.

Medizin statt Wellness. Resort-Arzt Ratnakumari Praveen sieht das prosaischer: „Zu viel Stress, zu viel Schweinebraten!", attestiert er dem schwäbischen Patienten. Typisch Kapha-Vata. Nach einer ausführlichen Anamnese, Pulsdiagnose und Blick auf die Zunge hat er ihm vegetarisches Essen, Ölgüsse und Massagen verschrieben. „Die befördern die Gifte nach innen in den Darm." Und dann? „Kommt der Einlauf!" Die Gifte müssen ja auch wieder raus. Wenn Glutsch nach zwei Wochen wieder nach Hause fliegt, wird er eine asiatische Rosskur hinter sich gebracht haben.

Auch wenn das idyllisch gelegene, bei Deutschen beliebte Ayurveda-Resort mit Badebucht und duftenden Orchideen eher an eine Urlaubsanlage als an eine Klinik erinnert, suchen die Gäste mehr als Entspannung: Sie kommen mit Bluthochdruck und Psoriasis, Leberproblemen und Gelenkschmerzen, um sich nach altindischer Tradition therapieren zu lassen. Spätestens bei den ausleitenden Verfahren — Erbrechen oder Abführmittel — erfahren sie allerdings, dass authentischer Ayurveda wenig mit dem zu tun hat, was europäische Wellness-Hotels unter diesem Etikett anbieten.

Eine steigende Zahl von Patienten erhofft sich vor allem bei chronischen und funktionellen Beschwerden Linderung oder Heilung. 100000 Deutsche fliegen jedes Jahr nach Indien, um sich ayurvedisch behandeln zu lassen. Unüberschaubar ist die Szene in Deutschland, wo sich jeder Bademeister eigenmächtig zum Ayurveda-Therapeuten befördern darf.


© Andrea Schuhmacher
Die Öspülung soll die Augenhornhaut des Patienten heilen

Das ist bedauerlich, denn vieles spricht dafür, dass die 3000 Jahre alte Heilslehre mehr sein könnte als ein weiterer dubioser Trend auf dem Esoterikmarkt. Selbst Schulmediziner entdecken das Potenzial des Ayurveda: Am Uniklinikum Hamburg wird über einen Stiftungslehrstuhl Ayurveda nachgedacht, in Bochum über einen Schwerpunkt in indischer Medizin, und in München können die Wöchnerinnen der Frauenklinik vom Roten Kreuz bereits seit Jahren Ayurveda-Massagen buchen.

„Die indische Medizin wird in die EU eindringen, ob wir wollen oder nicht", prognostiziert Horst Przuntek, Chefarzt der Neurologie am Klinikum der Universität Bochum, ein Kenner des indischen Gesundheitswesens. Sein eindrücklichstes Erlebnis hatte er in einer psychiatrischen Anstalt in Kalkutta, als er beobachtete, wie Ayurveda-Ärzte schwere Psychosen ohne Neuroleptika behandelten. „Selbst aggressive Leute wurden wieder ruhig", berichtet Przuntek erstaunt.

Alleskönner Ayurveda? In Indien ist Ayurveda eine Medizin für alle Indikationen — und sei es nur mangels Alternative. Während sich vermögende Inder mittlerweile in Privatkliniken unter die sterilen Skalpelle westlich ausgebildeter Chirurgen legen, bleibt Ayurveda die Medizin des Volkes. Dabei leiden ihre Vertreter nicht unter falscher Bescheidenheit.

„Wir sind nicht so richtig gut in der Diagnostik, in der Forschung und in der Chirurgie", gesteht Abdul Waheed, Chef des Podar Medical College der Universität Bombay. „Ansonsten ist Ayurveda überall besser." Waheed spielt mit seinem Handy, ignoriert den Schimmel, der über die Wände kriecht, und erklärt leicht gelangweilt: „Wir nehmen die fünf Elemente des Universums und bringen den Körper wieder in Harmonie: Alle Krankheiten können so geheilt werden." Sein Untergebener, der Arzt Anil Kumar Shukla, soll das bei einem Rundgang durch das 200-Betten-Haus doch mal demonstrieren.


© Andrea Schuhmacher
Arzt Anil Kumar Shukla am vertraut auf Ayurveda und Bhagwan Dhanvantari, den Gott der indischen Heilkunst

Es folgt eine Führung durch eine Ayurveda-Welt, die gar nichts mehr mit Wellness zu tun hat. Farbe blättert, Tauben fliegen durch die neonbeleuchteten Gänge und picken an den Stromleitungen. Eine Ratte huscht vorbei. Über allem wacht am Eingang des Krankenhauses Bhagwan Dhanvantari, der Gott der indischen Heilkunst.

Shukla führt in einen Krankensaal. Helfer machen gerade einen Aderlass bei einem Polizisten: Sie haben die Haut angeritzt und einen Blutegel angesetzt. Eine Halle weiter wird die kranke Augenhornhaut eines Mannes behandelt: Ein Arzt hat mit einer Art Knetmasse einen Wall ums Auge gebaut und spritzt Öl ins Rund. Sogar ein Herzinfarkt liegt etwas abseits im Gang. „Wir haben ihm Swarna Bhasma (Goldasche) gegeben", erläutert Shukla. „Er ist stabil.„Hinter einem Leintuch liegt auf einer Pritsche zusammengekrümmt ein ausgemergelter älterer Mann. „Antibiotikaresistente Tuberkulose", erläutert gelassen Arzt Shukla. „Mit Ayurveda kriegen wir das in drei Monaten wieder hin."

Kein Wunder, dass westliche Mediziner skeptisch sind, zumal die Theorie des Ayurveda auf den ersten Blick obskur erscheint: Was soll man denn anfangen mit einer prämodernen Heilslehre, die verkündet, der Mensch sei ein mikroskopisches Abbild des Kosmos und bestünde wie dieser aus den Elementen Erde, Wasser, Feuer, Luft und Äther? Eine mögliche Antwort ist, dass man die Begriffe der ayurvedischen Physiologie als Metaphern sieht und nach harten naturwissenschaftlichen Kriterien prüft, ob die von ihnen angeleiteten Therapien wirken. Tatsächlich geschieht genau das derzeit in Indien.

Auf zur Wissenschaft. Weil die Schulmedizin seit den Kolonialzeiten auch in Indien enorm an Ansehen gewonnen hat, dominiert heute der verwissenschaftlichte und professionalisierte „College Ayurveda" den Subkontinent. Heute studieren Ayurveda-Ärzte mindesten fünfeinhalb Jahre an regulären Universitätsfakultäten, lernen auch westliche Diagnostik und Physiologie. Indische Wissenschaftler testen zunehmend die Ayurveda-Medizin in Studien auf ihre Effizienz. Christian Kessler von der Medizinischen Hochschule Hannover sichtete 100 ayurvedische Studien auf ihre methodische Qualität. Er bescheinigte ihnen fast durchweg „eine hohe Aussagekraft".Viel versprechende Ergebnisse zeigten sich zum Beispiel bei der Therapie des Diabetes.

Insbesondere seine grüne Apotheke verschafft dem Ayurveda neue Aufmerksamkeit. Hunderte von Naturheilmitteln sind bekannt, und wahrscheinlich wächst in den artenreichen Urwäldern Keralas noch so manches potente Kraut. „Der Exportmarkt wächst", jubelt etwa Jayesh Chaudhary, Geschäftsführer von Vedic Lifesciences in Bombay. Er führt ein wissenschaftliches Dienstleistungsunternehmen, das Firmen hilft, etwa ein altes ayurvedisches Heilmittel in ein international vermarktbares Medikament zu verwandeln. So engagiert er Pflanzenchemiker, die in den ayurvedischen Pflanzencocktails die aktiven Komponenten heraussuchen, und organisiert klinische Studien. Aktuell entwickelt sein Team Mittel gegen Typ-1-Diabetes, zur Immunstärkung von HIV-Patienten und zur Blutfett-Senkung. Allerdings erschweren die restriktiven Zulassungsbestimmungen in den USA und Europa den Arznei-Export. „Die Behörden wollen bis ins letzte Molekül wissen, was in einer Tablette ist", klagt Chaudhary. „Das sind doch nur Handelsschranken."


© Andrea Schuhmacher
Heilung unter Palmen: Touristen-Ressort in Kerala

Auch deutsche Experten halten die früher berechtigte Angst vor mit Schwermetallen belasteten Medikamenten mittlerweile für größtenteils unbegründet. Zwar gehören Blei und Quecksilber immer noch zum ayurvedischen Arzneischatz. Doch weil der Export lockt, achtet die indische Regierung inzwischen auf die Medikamentensicherheit.

Fast vergessen ist, dass sogar das erste brauchbare Schizophreniemittel indischen Ursprungs ist: 1952 isolierten deutsche Forscher das Alkaloid Reserpin aus der Schlangenwurz, die in Indien seit Jahrhunderten als Beruhigungsmittel angewendet wird. „Das war eine Revolution", erinnert sich der emeritierte Tübinger Pharmakologe Hermann Ammon. Er selbst brachte aus Indien Salai-Guggal mit, das Harz des Indischen Weihrauchs. Dieses Naturheilmittel bewirkte bei chronischer Polyarthritis und Colitis ulcerosa bei 60 bis 80 Prozent der Patienten eine spürbare Besserung, sodass sie fortan auf Cortison verzichten konnten. Im Reagenzglas konnte Ammon nachweisen, dass die Substanz die Synthese von Entzündungsstoffen unterdrückt.

Viel verspricht ein Pulver aus Juckbohne (Mucuna pruriens). Der Neurologe Bala Manyam von der Texas-A&M-Universität stellte daraus ein Präparat her, das gegen Parkinson bei wenig Nebenwirkungen angeblich besser wirkt. Da sich Naturstoffe nicht patentieren lassen, fand sich bislang kein Unternehmen, das die Entwicklungskosten riskiert, um das Medikament bis zur Marktreife zu bringen.

Ananda Chopra, leitender Arzt der Ayurveda-Abteilung der Habichtswald-Klinik in Kassel, empfiehlt außerdem, bei allen neuen Medikamenten die ayurvedische Konstitutionsanalyse durchzuführen — im Grunde ein moderner Ansatz, weil er Individualität ernst nehme. So sei etwa das erwähnte Weihrauch-Präparat eben nicht bei allen Patienten das Mittel der Wahl. Der klassische Ayurveda würde verlangen, dass bei jeder Therapie nach ihren Auswirkungen auf die so genannten Doshas geachtet werde. „Wenn die Genomforscher mit ihren Methoden das maßgeschneiderte Blutdruckmedikament entwickeln wollen, machen die etwas Ähnliches: Sie versuchen, auf die Verschiedenheit der Menschen einzugehen."

Im pragmatischen Mix liegt deshalb nach Ansicht Chopras die Chance des Ayurveda im Westen: Wer sich in seine Abteilung aufnehmen lässt, wird ganz klassisch einer Puls- und Zungendiagnose unterzogen. Über einen Fragebogen wird die Verteilung der Doshas ermittelt. Nebenan stehen die Diagnoseapparate der Schulmedizin bereit. Wer als Krebspatient nur auf Ayurveda vertrauen will, wird freundlich eine Station weiter an die Onkologie verwiesen. Doch gern bieten die Kasseler Ayurveda-Ärzte all ihre Kunst auf, um die Nebenwirkungen einer Chemotherapie zu lindern oder eine Brustkrebspatientin nach der konventionellen Behandlung wieder aufzubauen.

„Gute Erfahrungen machen wir bei funktionellen und chronischen Störungen", berichtet Chopra, „den psychophysischen Erschöpfungszuständen, leichten bis mittelgradigen Depressionen, chronischen Gelenk- und Knochenerkrankungen und chronisch-entzündlichen Darmerkrankungen."

Schon alles richtig, meint Ratnakumari Praveen, der Arzt von „Nikki's Nest" in Kerala. Schließlich hat er selber drei Jahre lang im schweizerischen St. Moritz die Reichen und Schönen behandelt und ist darüber nicht froh geworden. „Ich glaube, dass Ayurveda nur in der richtigen Umgebung funktioniert: Es muss warm sein."

 

* Name geändert