Der Anden-Pakt

(brand eins)

Am Anfang waren die PanflÖten und die Ponchos in FußgÄngerzonen und auf FlohmÄrkten. Dann wurde in dem ecuadorianischen Andendorf Otavalo eine ganze Industrie daraus. Ein LehrstÜck Über Vetternwirtschft im Zeitalter der Globalisierung.


© Andrea Schuhmacher
In seiner Manfaktur bei Otavalo stimmt Alfonso Cachiguango Panflöten. Er gehörte zur Musikgruppe Nanda Manachi, die in den 1980ern der Andenmusik zum Durchbruch in Europa und Nordamerika verhalf.

Der Veränderung kann etwas sehr Einfaches sein, wenn man einige Regeln beachtet. Alfonso Luis Morales zeigt auf einen seiner Webstühle, deutet auf die bunte Wolle, die dort eingespannt ist, und sagt: "Heute ist alles aus Acryl." Die bunten Entwürfe, die tiefen Farben, keine Wolle? "Alles Acryl." Feine Muster ließen sich leichter aus Kunstgewebe spinnen, Wolle sei zu widerspenstig. Gerade jetzt, da man in dem Dorf Otavalo auf andere Motive umgesattelt habe, sei das wichtig. Auf dem Webstuhl entsteht ein Bob-Marley-Porträt in den Farben Jamaikas. "Wir machen alles, was sich verkaufen lässt", sagt Morales.

Otavalo, zwei Busstunden von Ecuadors Hauptstadt Quito entfernt, auf 2500 Metern Höhe in den Anden, hat mit der Karibik so viel gemeinsam wie Gelsenkirchen mit den Galapagos-Inseln. Aber die Kleinstadt mit 30 000 Einwohnern ist bevölkert von geschäftstüchtigen Leuten, die seit jeher zwei Beschäftigungen nachgehen: weben und musizieren.

So kommt es, dass dieser Ort in einem Gebirgstal zu einem Gewinner der Globalisierung wurde. Die Geschichte von Otavalo ist eine Geschichte von Leuten mit Traditionsbewusstsein und Flexibilität. Sie handelt davon, wie sich in Zeiten von Mobiltelefon und Internet in der Provinz eine Gemeinschaft herausbilden kann, die ein Netz über den amerikanischen Kontinent, Europa, Asien bis nach Australien spannt. Ihr Zentrum ist Otavalo.

Alfonso Luis Morales trägt einen Filzhut und hat das Haar zu einem Zopf gebunden. Er ist der reichste Weber der Stadt, sagen die Nachbarn. Als Sechsjähriger hat er mit dem Handwerk angefangen, der Vater hatte einen Holzwebstuhl. Heute schickt er seinen Sohn auf die Schule, damit er Fremdsprachen lernt. Und wenn für die neun elektrischen Webstühle Ersatzteile gebraucht werden, reist der Sohn von den Anden nach Westhausen auf der Schwäbischen Alb, wo die Maschinen entstehen. Man müsse eben mit der Zeit gehen und sich dem Fortschritt anpassen, sagt Morales. Das gilt auch für die Vorlieben seiner Kunden. "Ponchos und Wolljacken haben sich abgenutzt. Momentan sind in den USA und in Europa eher die Sioux-Motive in Mode." Schon 1990 habe er die klassischen Indio-Motive nicht mehr hergestellt und angefangen, den Markt genauer zu beobachten.


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In der Weberei von Alfonso Luis Morales setzt ein Mitarbeiter eine Spule Acrylgarn auf einen Webstuhl. Feine Muster lassen sich leichter aus Kunstgarn fertigen als aus Wolle.

Der Markt, das sind für Morales die Fußgängerzonen in Europa und den USA. Ob in Fulda oder Frankfurt, Mannheim, München oder Mainz - man kann den Musikgruppen im Ethno-Look kaum entkommen. Und egal, wo man sie findet, sie spielen von früh bis spät "El Condor pasa", begleitet von Panflöte, Gitarre und Trommel. Zur Musikdarbietung wird stets Indio-Nippes verkauft: Ponchos und Mützen, Halsketten und Armreife und natürlich die eine CD. Die Musiker sind eine weltbekannte Marke. Viele von ihnen stammen aus Otavalo. Ein mehrjähriger Auslandsaufenthalt ist vor allem für die jungen Männer der Stadt Pflicht. Die amerikanische Ethnologin Lynn Meisch hat herausgefunden, dass von den 60 000 Einwohnern im Hochtal um die Stadt 4000 permanent im Ausland leben und 6000 vorübergehend. Zeitweise tourten gleichzeitig bis zu 400 Musikgruppen aus der Region durch Europa.

Luis Hubert Maldonado, 40, gehörte einmal zu ihnen. Er steht mit Karohemd, Cowboystiefeln und schwarzem Filzhut in seinem Schreibwarenladen, ordnet Notizblöcke und packt dann orangefarbene Wasserspritzpistolen aus. "Wer etwas verdienen will, muss sich nach dem Markt richten", fasst er eine der Grundregeln der Otavaleños zusammen. Als er 20 Jahre alt war, gründete er mit seinen Brüdern und Cousins die Band Yuyario; er versetzte den Goldschmuck seiner Frau und kaufte sich ein Flugticket nach Paris. Seine Familie ließ er zurück.

Jeder hilft - und jeder darf auf Hilfe hoffen

In Europa hatte die Combo das Glück der Anfänger. Bei der Ankunft wurden sie zwar von ihrem Kontaktmann versetzt, der sie am Flughafen hätte abholen sollen. Aber dann liefen sie einfach zu Fuß drauflos, weil sie glaubten, der Flughafen in Paris läge, wie in Quito, in der Stadtmitte. Irgendwie fanden sie ein billiges Hotel. Und schon bald hatte einer der Musiker eine Freundin, bei der sie einen Monat später einzogen. Danach führte sie ihre Reise nach Amsterdam, wo sie bei Bekannten abstiegen und mit Ponchos und Panflöte in der Fußgängerzone aufspielten.

Sie sparten eisern und konnten sich mit ihren Konzerteinnahmen bald ein gebrauchtes Wohnmobil leisten, mit dem sie durch Belgien, Deutschland und schließlich durch Spanien tourten. Doch dort war die Konkurrenz groß. In Spanien wimmelte es von Ecuadorianern, die "El Condor pasa" spielten. Also zogen sie weiter und ließen sich in Portugal nieder.

"Da waren wir die Ersten", sagt Maldonado. "Mir gefiel es dort, weil uns die Kultur vertraut war." Als die anderen Band-Mitglieder wieder auf Rundreise gingen, blieb er und handelte mit Kunsthandwerk. Inzwischen hat er neben der ecuadorianischen auch die portugiesische Staatsbürgerschaft und pendelt zwischen Otavalo und Nazaré, einem Touristenort an der portugiesischen Küste. Seine Tochter Juanita ist mit einem Portugiesen verheiratet und betreibt in dem Ort inzwischen einen eigenen Laden: Sie verkauft Souvenirs aus Ecuador, Indonesien und Nepal.

In Otavalo steigt ihr Vater in einen Chevrolet und startet zur Stadtrundfahrt: Viele Bauten sind eingerüstet, weil sie gerade aufgestockt werden. Vor einem Bretterzaun parkt er und führt durch einen Rohbau, sein neuestes Projekt: "17 Zimmer soll mein Hotel haben und vielleicht auch ein Restaurant", sagt er.

Maldonados Familie arbeitet auf zwei Kontinenten. So wie viele andere Otavaleños auch. Sie sind flexibel, mutig, reiselustig - aber sie vergessen nie ihre Herkunft. Denn gerade ihr Heimatgefühl macht den Erfolg erst möglich. "Compadrazgo" - spanisch für Gevatter - nennen die Otavaleños ihr System. Jeder, der zu dieser Gemeinschaft gehört, kann auf Hilfe hoffen, ist aber auch dazu verpflichtet, den anderen unter die Arme zu greifen. Ein Otavaleño, der in einer europäischen Stadt neu ankommt, klingelt einfach an der Tür eines Landsmanns.


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Luis Humberto Maldonado versetzte den Goldschmuck seiner Frau für ein Ticket nach Europa. Von dem dort erwirtschafteten Geld eröffnete er einen Souvenir-Shop in Portugal und einen Schreibwarenladen in Otavalo. Gerade baut er sein neues Hotel.

In ihrer Heimat Ecuador haben sie für die gegenseitige Hilfe eine Organisation gegründet. "Guten Tag", grüßt Luis Cachiguango Cotacatchi auf Deutsch. Er ist Generaldirektor von Chuchuqui, der Leih- und Kreditkooperative für Einheimische in Otavalo. Auch er hat eine Auslandstour absolviert. In Frankfurt, Bochum und München hat er so lange Kunsthandwerk verkauft, bis er genug Geld für einen Laden zu Hause gespart hatte. Dort verkauft seine Frau nun bunte Strickjäckchen, Schals und Mützen. Er richtet sich in seinem Sessel auf, schiebt ein paar Akten zur Seite und erklärt das Geschäftsmodell der Kooperative: "Wir geben Kredite an Leute, die nach Europa gehen und Kunsthandwerk verkaufen oder Musik machen wollen." Mit 10 000 bis 20 000 Dollar komme man in Europa ein bis zwei Jahre aus, rechnet er vor. Die Reisenden müssen das Geborgte dann zuzüglich 14 Prozent Zinsen pro Jahr zurückzahlen.

Cotacatchi gründete die Kooperative 1968 mit Freunden. Die Idee wurde aus der Not geboren, weil die Banken den Indios keine Kredite geben wollten. "Heute hat die Kooperative 8000 Mitglieder und ein Kapital von sechs Millionen US-Dollar", sagt er. Mittlerweile gebe es sogar Pläne, Filialen in anderen Gemeinden des Landes zu eröffnen. "Bedürftige gibt es überall", so Cotacatchi. Die Kooperative sei deshalb so beliebt, weil sie, im Unterschied zu anderen Unternehmen dieser Art, weder verfilzt noch zerstritten sei. "Wir sind transparent und legen alle sechs Monate die Bücher offen. Das schafft Vertrauen." Und: "Wir sind nicht alle reich, aber das Mindesteinkommen in Otavalo beträgt mittlerweile 2400 Dollar im Jahr. Hier hungert niemand mehr."

Keine Frage: Das Geld hat das Tal verändert. Die Immobilienpreise sind gestiegen. Und die Jugendlichen tragen längst keine Ponchos mehr, sondern Jeans, die in den Kniekehlen hängen. Leisten können sie sich diese Garderobe, weil es in Europa und den USA Menschen gibt, die gern Ponchos tragen. Oder auch Handschuhe und Pullover mit Stars and Stripes, die die Otavaleños nach den Anschlägen des 11. September 2001 lieferten.

Schon in vorkolonialer Zeit waren sie als Händler von Stoffen und Textilien bekannt. Doch erst die spanischen Eroberer legten die Grundlagen für den wirtschaftlichen Aufstieg. Da sie in dem heutigen Ecuador kaum Bodenschätze fanden, ließen sie in dem Land Textilien fertigen. Mit Zwangsarbeit beuteten sie die Hochtalbewohner aus, schätzungsweise die Hälfte von ihnen kam dabei um. Aber die Spanier brachten auch Schafe und moderne Webstühle in die Anden. Und so wurden bereits im 17. Jahrhundert aus Otavalo Stoffe exportiert. Schon damals passten sich die Weber den Moden an.


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An der Plaza Major, dem zentralen Markt, mischt sich Tradition mit Moderne. Die Marktfrauen tragen die traditionelle Tracht, Webtücher, Jacken- und Indio-Mützchen werden von den Webereien bequem in dicken Jeeps herangekarrt.

Nachdem Ecuador von Spanien unabhängig geworden war, galt im Otavalo-Tal das sogenannte Wasipungu-Recht: ein Feudalsystem, in dem die Indígenas auf großen Haziendas für das Recht schufteten, ein kleines Stück Land selbst zu bestellen. Als dieses System später abgeschafft wurde, verfügten viele nicht mehr über genügend Fläche zum Überleben. Notgedrungen suchten sie nach neuen Erwerbsquellen: Textilien und der beginnende Tourismus boten sich an. Heute ist der Ort ein El Dorado für Rucksackreisende aus der ganzen Welt. Sie treffen sich auf der Plaza de los Ponchos und decken sich mit Souvenirs ein.

Das sei zwar ein gutes Geschäft, sagt Mario Conejo, der Bürgermeister, "aber wir müssen uns stärker diversifizieren". Die Bürger der Stadt seien nicht mehr innovativ genug. Er schiebt seine Tasse mit grünem Tee beiseite und holt ein Gummiband hervor. "Wenn das heute einer auf der Plaza de los Ponchos zum Verkauf anböte, könnte man es in zwei Wochen an jedem Stand kriegen." Um dieser Falle zu entgehen, will die Kommune demnächst eine Handelsschule eröffnen. Sie soll dafür sorgen, dass sich die Otavaleños stärker professionalisieren.

Und wo ist der nächste Markt?

In Otavalo weben die Hersteller Bob-Marley-Köpfe auf Ponchos, fertigen sogenannte Traumfänger, die zum Symbolschatz der nordamerikanischen Indianer gehören, und basteln Federschmuck. Die Perlen für die Halsketten kommen aus China und Peru. "Die neuen Federverkleidungen der Musiker in Europa sind doch verrückt", sagt Alfonso Cachiguango und schüttelt angewidert den Kopf. Er kann sich das leisten. Cachiguango gehörte zu der Musikgruppe Nanda Manachi, mit der alles anfing. 1979 tourte sie auf Einladung einer Konzertagentur durch Frankreich und verhalf der Andenmusik zum Durchbruch in Europa. Sie waren Unterhaltungsprofis, die in Amsterdam, Paris, New York und Montreal die Hallen füllten - und haben einer Bewegung den Weg geebnet, die von Otavalo aus die Welt eroberte.


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Weltweit gut vernetzt zu sein, gehört zum Erfolgsrezept der Otavalenos. Skypen im örtlichen Internetcafe hilft, die Kontakte in Übersee zu pflegen.

Cachiguango schreitet durch den Hinterhof seines Hauses. Er trägt eine weiße Hose mit akkurat sitzender Bügelfalte und strahlt die Würde des Pioniers aus. "Ich verstehe ja, dass die jungen Musiker irgendwie Geld verdienen müssen. Aber ich hoffe, sie vergessen die alte Musik nicht." Mit seinen eigenen Melodien verdient Cachiguango noch immer genug Geld, um sich keine Sorgen machen zu müssen. An Touristen verkauft er im Jahr rund 3000 CDs seiner Musik, das Stück zu 10 Dollar. Ein Konzert seiner Gruppe bringt rund 2000 Dollar ein, eine Tournee durch Europa 12 000. Aber auch Cachiguango hat mitbekommen, dass die Andenmusik in Europa langsam aus der Mode kommt. Für ihn ist das kein Problem, sondern eine Chance. Schon sucht er an anderen Orten der Welt neue Fans. "Vor drei Jahren waren wir in Japan. Die Leute waren begeistert. Die lieben unsere Rhythmen!" Eine seiner Töchter ist inzwischen nach Japan ausgewandert. Sie betreibt dort eine Panflöten-Werkstatt und gibt Unterricht. Cachiguango sagt: "Das könnte ein neuer Markt werden."